Auf der EXPO 2025 in Osaka steht das japanische Konzept „chōdo ii“ – sinngemäß „genau richtig“ oder „das rechte Maß“ – im Zentrum einer zukunftsweisenden Diskussion über das Zusammenspiel von Technologie, Design und Gesellschaft.
Am 16. Mai 2025 diskutierten der deutsche Industriedesigner Prof. Fritz Frenkler, der japanische Laserphysiker Prof. Akifumi Yogo und der singapurische Innovationsstratege Clarence Chua über die Frage, wie dieses Prinzip helfen kann, eine lebenswerte, nachhaltige Zukunft zu gestalten.
„chōdo ii“ beschreibt eine subtile Balance – weder Übermaß noch Mangel –, die in der japanischen Kultur tief verwurzelt ist. In der Gestaltung bedeutet dies, dass Technologie und Design nicht dominieren, sondern sich harmonisch in den Alltag einfügen. Prof. Frenkler, stark beeinflusst von Dieter Rams’ Prinzipien des „guten Designs“, betonte:
„Design sollte sich zurücknehmen und dem Menschen dienen.“
Diese Haltung spiegelt sich in der Philosophie von Azbil Corporation wider, die auf der Expo ihre Vision einer „Human-Centered Automation“ vorstellte. Dabei geht es um Technologien, die unauffällig im Hintergrund wirken – etwa bei der Regulierung von Raumklima –, um ein Gefühl von Komfort zu erzeugen, ohne dass der Nutzer es bewusst wahrnimmt. Azbil strebt bis 2050 eine Zukunft an, in der Menschen durch solche Technologien „wahrhaft sie selbst sein können“.
Die EXPO 2025 selbst versteht sich als „People’s Living Lab“ – ein Ort, an dem Besucher nicht nur Innovationen erleben, sondern aktiv an der Gestaltung der Zukunft mitwirken können. Das übergeordnete Motto „Designing Future Society for Our Lives“ wird durch drei Unterthemen konkretisiert:
- Saving Lives (Leben retten)
- Empowering Lives (Leben stärken)
- Connecting Lives (Leben verbinden)
Ein herausragendes Beispiel für die Umsetzung dieser Ideen ist das Signature-Pavillon „null²“, entworfen vom Medienkünstler Yoichi Ochiai. Das Gebäude besteht aus spiegelnden Membranen, die sich durch Robotik und akustische Vibrationen verändern und so die Grenzen zwischen digitaler und physischer Realität auflösen. Es verkörpert die Idee einer „Digital Nature“, in der Technologie und Natur nicht im Widerspruch stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen.
Die Diskussion um „chōdo ii“ auf der EXPO 2025 zeigt, dass die Zukunft nicht in radikalen Umbrüchen liegt, sondern in der feinen Abstimmung zwischen Mensch, Technologie und Umwelt. Es geht darum, eine Gesellschaft zu gestalten, in der Innovation nicht Selbstzweck ist, sondern dem Wohlbefinden und der Nachhaltigkeit dient.
Philosophische Wurzeln und kulturelle Bedeutung von „chōdo ii“
Das Konzept „chōdo ii“ entstammt tiefen kulturellen und philosophischen Traditionen Japans. Es beschreibt nicht nur eine ästhetische oder funktionale Balance, sondern eine Haltung gegenüber dem Leben selbst. In einer Welt, die zunehmend von Extremen geprägt ist – von technologischer Überforderung bis hin zu sozialer Entfremdung – bietet dieses Prinzip eine Rückbesinnung auf das Wesentliche. Ähnlich wie das buddhistische Prinzip des Mittleren Weges oder die Philosophie des Wabi-Sabi strebt „chōdo ii“ nach Einfachheit, Klarheit und Angemessenheit. Diese Haltung fließt in viele Bereiche der japanischen Kultur ein – von Architektur über Gastronomie bis hin zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Auf der Expo wird sichtbar, wie diese Haltung auch in die technologische Zukunft übertragen werden kann: Weg von überladenen Interfaces und überkomplexer Technik, hin zu intuitiven, zurückhaltenden Lösungen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Diese Rückbesinnung ist ein Gegenentwurf zum globalen Technologiewettlauf und stellt die Frage: Müssen wir immer mehr wollen – oder reicht vielleicht das, was genau richtig ist?
Technologische Umsetzung im urbanen Raum
Ein zentrales Thema der EXPO 2025 ist die Integration der „chōdo ii“-Philosophie in den städtischen Raum. Städte der Zukunft sollen nicht nur intelligent, sondern auch menschlich sein. In Osaka werden verschiedene städtische Konzepte vorgestellt, die Sensorik, KI und nachhaltige Energie in Einklang mit sozialer Teilhabe und ökologischer Rücksicht verbinden. So etwa ein Modellquartier, in dem Wohnräume, Energieversorgung, Mobilität und Gesundheitsversorgung über eine gemeinsame Plattform organisiert sind – nicht um Kontrolle zu ermöglichen, sondern um ein Maximum an Autonomie, Komfort und Umweltfreundlichkeit zu erreichen. Besucher erleben diese Umsetzungen nicht nur theoretisch, sondern können über AR- und VR-Simulationen selbst Teil des urbanen Alltags werden. Dabei liegt der Fokus auf Lösungen, die adaptiv und lernfähig sind: Straßenbeleuchtung, die sich dem natürlichen Tagesverlauf anpasst, Ampelsysteme, die auf Fußgänger und Radfahrer reagieren, oder Wohngebäude, die mit dem Tagesrhythmus ihrer Bewohner interagieren. Technologie wird hier nicht als Showelement verstanden, sondern als dienende Struktur, die den Alltag einfacher, leiser und gesünder gestaltet.
Globale Relevanz und Perspektiven nach der Expo
Obwohl „chōdo ii“ tief in der japanischen Kultur verwurzelt ist, bietet das Konzept einen universellen Ansatz für globale Herausforderungen. In einer Zeit, in der Klimakrise, Digitalisierung und soziale Ungleichheit viele Gesellschaften vor Zerreißproben stellen, kann ein Streben nach Balance und Maß neue Perspektiven eröffnen. Vertreter aus Skandinavien, Deutschland und Südostasien diskutieren auf der Expo, wie sich das Prinzip auf ihre jeweiligen kulturellen und wirtschaftlichen Kontexte übertragen lässt. Besonders spannend ist dabei der Austausch mit Start-ups und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Technologien für Gesundheit, Bildung oder Energieversorgung entwickeln und dabei nicht auf Skalierbarkeit, sondern auf Passgenauigkeit setzen. Auch in der Bildung wird das Prinzip aufgegriffen: Lernumgebungen, die nicht auf Leistung, sondern auf Entfaltung ausgerichtet sind, stehen exemplarisch für eine neue Denkweise. Die EXPO 2025 wird so zu einem Impulsgeber für ein neues Narrativ der Innovation, das nicht auf das „größer, schneller, weiter“, sondern auf das „genau richtig“ setzt. Entscheidend wird sein, ob die dort präsentierten Visionen nach der Weltausstellung auch Eingang in reale Politik, Wirtschaft und Alltag finden.

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.