Bild exemplarisch
Mit ihrer Installation „CHOIR“ hat die deutsche Künstlerin Katharina Grosse den öffentlichen Raum rund um den Messeplatz der Art Basel in ein monumentales, farbintensives Kunstwerk verwandelt. Für sieben Tage wird die zentrale Fläche der weltbekannten Kunstmesse zur Bühne für eine räumliche und körperlich erfahrbare Intervention – eine Synthese aus Farbe, Architektur und Performance.
Ein Farbenmeer auf Asphalt und Beton
Seit dem 16. Juni 2025 erstreckt sich Grosses Werk „CHOIR“ über mehr als 5.000 Quadratmeter des Messeplatzes in Basel. Mit einer industriellen Spritzpistole wurden großflächige Muster in Weiß- und Magentatönen auf Boden, Brunnen, Architekturfragmente und Fassaden aufgetragen – sogar das bekannte Art Basel-Logo wurde kurzerhand übersprüht. Die Farbe wird nicht einfach aufgetragen, sie greift in die Struktur des Ortes ein, überdeckt und verbindet zugleich. Die Grenzen zwischen Werk, Umgebung und Besucher verschwimmen.
Grosse bezeichnet diese Form des Malens als „theatrical painting“. Der Begriff verweist auf eine Inszenierung, bei der die Besucher nicht bloß Zuschauer, sondern Teil des Szenarios werden. Das Werk „CHOIR“ lädt zur unmittelbaren körperlichen Erfahrung ein – Farbe wird nicht betrachtet, sondern durchquert.
CHOIR als performativer Raum
Die zentrale Idee hinter „CHOIR“ ist das Aufbrechen gewohnter Sehgewohnheiten. Durch den massiven Einsatz von Farbe und Dimension wird der Messeplatz selbst zur „Membran“, durch die die Besucher hindurchgehen. Die gewohnte Funktionalität des Raumes wird aufgehoben, Alltagsobjekte wie Sitzbänke, Wege oder Brunnen verlieren ihre bekannte Form – oder gewinnen neue Bedeutung im Zusammenspiel mit der Farbe.
Grosse beschreibt dieses Moment als „Game“, als ein Spiel zwischen Raum, Farbe, Körper und Zeit. Dabei bleibt die Installation flüchtig – nach dem Ende der Art Basel am 22. Juni wird sie vollständig zurückgebaut. Die temporäre Natur ist dabei kein Zufall, sondern Teil des künstlerischen Konzepts: Kunst soll nicht nur sichtbar, sondern auch vergänglich sein.
Künstlerisches Selbstverständnis und Technik
Katharina Grosse, geboren 1961 in Freiburg im Breisgau, gehört seit den 1990er-Jahren zu den international renommierten Künstlerinnen, die Malerei aus dem Rahmen heben. Ihre Werke entstehen nicht auf Leinwand, sondern direkt auf Wänden, Böden, Häusern, sogar Landschaften. Ihre bevorzugte Technik: der Einsatz von industrialisierten Farbspritzpistolen. Diese ermöglichen ihr, Farbschichten in hoher Geschwindigkeit, großflächig und mit starker Sättigung zu erzeugen – ohne sichtbare Pinselspuren.
„Imagination doesn’t have a scale“, lautet eines ihrer zentralen Credos. Das bedeutet: Farbe kennt keine Grenzen, weder in ihrer Ausdehnung noch in ihrer Wirkung. In „CHOIR“ manifestiert sich dieser Gedanke auf radikale Weise.
Ein Projekt mit Haltung: Ökologie und Verantwortung
Was bei vielen monumentalen Installationen fehlt, ist bei Grosse bewusst mitgedacht: der ökologische Fußabdruck. Der verwendete Asphalt wird nach Ende der Ausstellung recycelt. Die aufgesprühte Farbe ist so konzipiert, dass sie sich rückstandslos entfernen lässt. Zudem entwickelt Grosse in ihrem Studio eigene Filtersysteme, mit denen Farbpigmente aus dem Abwasser gefiltert werden können. Die Künstlerin experimentiert mit umweltverträglichen Bindemitteln und arbeitet an der Entwicklung von plastikfreien Farben.
In einem Kunstumfeld, das zunehmend auf Nachhaltigkeit achtet, setzt Grosse damit Maßstäbe. Ihre temporären Eingriffe verstehen sich als Interventionen, nicht als bleibende Veränderungen – das Material darf gehen, die Erinnerung bleibt.
Der kuratorische Rahmen: Art Basel und „Second Nature“
„CHOIR“ ist Teil eines kuratierten Außenprogramms namens „Second Nature“. Unter Leitung der Kuratorin Natalia Grabowska wurden 21 ortsspezifische Arbeiten im Stadtraum verteilt, die sich mit Natur, Wahrnehmung und Transformation beschäftigen. Grosse markiert dabei den spektakulären Auftakt: Noch nie zuvor wurde der zentrale Messeplatz in solchem Ausmaß zum Malgrund.
Das Konzept: Kunst soll sich nicht nur in Galerieräumen abspielen, sondern auch in den Alltag eindringen. Die Besucher der Art Basel werden so bereits beim Eintritt mit einem Werk konfrontiert, das nicht neutral beobachtet werden kann. Stattdessen zwingt es zu Stellungnahme, Bewegung, Irritation – und Begeisterung.
Mediale Reaktionen und Besucherfeedback
Die internationale Presse reagiert begeistert. Die Financial Times spricht von einem „spektakulären Auftakt“, The Spaces sieht in „CHOIR“ ein „synästhetisches Erlebnis“, und Hypebeast nennt es eine „Meditation über Freiheit und Kontrolle“. Die Farben – insbesondere das Magenta – sorgen für eine Sogwirkung, die Besucherinnen und Besucher in die Mitte des Geschehens zieht.
Doch es gibt auch kritische Stimmen. Einige Beobachter sehen in der Übersprayung des Art Basel-Logos eine kalkulierte Provokation. Andere stellen die Frage nach der tatsächlichen Wirkung solcher Großinstallationen: Wird hier wirklich der Raum transformiert – oder nur temporär überdeckt? Grosse selbst betont, dass es genau diese Spannung sei, die sie reizt: Kunst solle stören, irritieren, den Alltag in Frage stellen.
Zwischen Kunst und Kommerz
Gerade auf einer Messe wie der Art Basel, wo der Kunstmarkt millionenschwere Transaktionen im Hintergrund führt, hat eine Arbeit wie „CHOIR“ eine besondere Signalwirkung. In einem Umfeld, in dem klassische Malerei oft als Kapitalanlage gehandelt wird, setzt Grosse auf einen ephemeren Zugang – ihre Farbe ist nicht käuflich, nicht transportabel, nicht sammelbar. Die Arbeit entzieht sich dem typischen Marktmechanismus. Und doch ist ihre mediale Präsenz ein starkes Asset für die Marke Art Basel selbst.
In Zeiten sinkender Verkaufszahlen (der Umsatz der Art Basel 2024 ging um rund 12 % zurück) sind Projekte wie „CHOIR“ mehr als Kunst – sie sind kommunikative Ereignisse, die Aufmerksamkeit, Imagepflege und Differenzierung erzeugen.
Philosophische Perspektiven: Farbe als Körper
Grosses Werk lässt sich auch unter philosophischen Aspekten deuten. Die Farbe wird nicht mehr als Oberfläche verstanden, sondern als phänomenologische Kraft: Sie erschafft Raum, verändert Bewegung, erzeugt Erinnerung. Die Farbe wird zum Körper, zur Handlung, zur Stimme – daher auch der Titel „CHOIR“ (dt. „Chor“), der auf das Zusammenspiel verschiedener Elemente verweist: Farbe, Fläche, Menschen, Klang, Architektur.
Diese multisensorische Erfahrung fordert die Besucher heraus. Man kann nicht bloß schauen, man muss sich verhalten: laufen, stehen, drehen, abwägen. Die Kunst zwingt zur Aktion – und zur Reflexion.
Was bleibt, wenn alles weg ist?
Am 22. Juni 2025 wird die Fläche gereinigt, die Farben verschwinden, der Platz kehrt in seine Normalität zurück. Doch „CHOIR“ ist mehr als ein visuelles Ereignis – es hinterlässt Spuren im Gedächtnis. Die Flüchtigkeit der Arbeit ist Teil ihrer Kraft. Was bleibt, ist die Erfahrung, durch einen anderen Raum gegangen zu sein, eine andere Art von Farbe gespürt zu haben.
„Ich möchte, dass meine Arbeiten wie ein Raum klingen“, sagt Grosse. „Sie sollen etwas zum Schwingen bringen, das in uns selbst liegt.“
Fazit: Ein ephemeres Meisterwerk mit nachhaltiger Wirkung
Mit „CHOIR“ gelingt Katharina Grosse ein Werk, das sich souverän zwischen Kunst, Architektur, Philosophie und Umweltbewusstsein bewegt. Die Art Basel erhält damit nicht nur ein ästhetisches Highlight, sondern auch eine künstlerische Aussage über die Gegenwart: über Wahrnehmung, Vergänglichkeit, Freiheit und Verantwortung.
„CHOIR“ ist kein Bild, das man kaufen oder mitnehmen kann – aber eines, das man nicht vergisst.

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.