Wie sprach man im frühen Mittelalter, lange bevor es ein standardisiertes Deutsch gab? Eine wachsende Zahl an Sprachforschern widmet sich der faszinierenden Welt des Althochdeutschen – einer Sprachstufe, die nicht nur durch religiöse Texte, sondern auch durch Glossare, Heldendichtungen und frühmittelalterliche Phrasebücher belegt ist. Neue Erkenntnisse zeigen: Viele Redewendungen, Begriffe und sogar grammatikalische Strukturen sind erstaunlich lebendig – und weit entfernt vom Klischee des rein kirchlichen Lateindeutsch-Mixes.
Was ist Althochdeutsch? Eine kurze Einordnung
Das Althochdeutsche umfasst den Zeitraum von etwa 500 bis 1050 n. Chr. und stellt die früheste belegte Sprachstufe des Deutschen dar. Es handelt sich dabei nicht um eine einheitliche Sprache, sondern um eine Vielzahl regionaler Dialekte, die vor allem durch klösterliche Schriften überliefert wurden. Die Sprache wurde hauptsächlich in Süddeutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz gesprochen und geschrieben.
Charakteristisch für das Althochdeutsche sind unter anderem:
- die sogenannte Zweite Lautverschiebung (z. B. p → pf oder f),
- der vollständige Auslaut von Endsilben (z. B. rihhi statt reich),
- komplexe Ablautmuster bei Verben,
- sowie das Fehlen einheitlicher Orthographien.
Zwischen Bibelvers und Alltagsrede: Woher stammen die Quellen?
Unsere heutige Kenntnis des Althochdeutschen speist sich aus einer Vielzahl schriftlicher Zeugnisse. Neben den bekannten religiösen Texten wie dem Tatian, dem Wessobrunner Gebet oder dem Evangelienbuch von Otfried von Weißenburg liefern auch Glossare wie der Abrogans oder die sogenannten Kasseler Gespräche Hinweise auf alltäglichen Sprachgebrauch.
Insbesondere die Glossographie – die Sammlung und Kommentierung lateinischer Begriffe mit althochdeutschen Erklärungen – wird heute als eigenständige Disziplin angesehen. Über 1.300 Handschriften mit Glosseneinträgen zeigen, dass sich darin nicht nur Übersetzungshilfen, sondern auch eigenständige Ausdrucksformen verbergen.
10 bemerkenswerte Wendungen aus dem 9. Jahrhundert
Während moderne Redewendungen in ihrer Formulierung nicht direkt mit althochdeutschen Beispielen übereinstimmen, lassen sich dennoch strukturähnliche Muster erkennen. Einige Beispiele:
- „skir min fahs“ – „Schere mein Haupthaar“ (Kasseler Gespräche): Beleg für rituelle oder praktische Alltagssprache.
- „gimer min ros“ – „Gib mir mein Pferd“ (Paris Conversations): frühe Form funktionaler Alltagssprache.
- „thaz ist guot“ – „Das ist gut“: eine Bewertung, die in vielen Kontexten auftaucht.
- „er ist mih hilfit“ – „Er hilft mir“: früher Ausdruck personaler Unterstützung.
- „ich bin thiu minna“ – „Ich bin deine Geliebte“: Ausdruck emotionaler Bindung.
- „ni uuas dar nie man“ – „Da war nie ein Mensch“: poetische Umschreibung aus dem Wessobrunner Gebet.
- „got ubar alle gote“ – „Gott über alle Götter“: Beispiel für Superlativbildung im religiösen Kontext.
- „fon himele gienc er“ – „Vom Himmel kam er“: häufig in Bibelübersetzungen.
- „dhes ist mir nales“ – „Das ist mir nichts“: frühes Beispiel für Ablehnung.
- „he habet thaz wort“ – „Er hat das Wort“: eine Formulierung, die auf Autorität verweist.
Mythos Einsprachigkeit: Die Rolle der Mehrsprachigkeit im Frühmittelalter
Ein bislang wenig beachteter Aspekt ist die Interaktion mit anderen Sprachräumen. So zeigen Studien, dass altenglische Missionare (wie Bonifatius) Einfluss auf das Schriftdeutsch nahmen. Einige Glossen enthalten sogar altenglische Lehnformen oder zeigen, wie das Latein in mehreren Sprachen gleichzeitig erklärt wurde. Es handelte sich also nicht um eine strikt einsprachige Kommunikationskultur, sondern um eine stark durchmischte, mehrsprachige Gesellschaft.
Wortbildung und Grammatik: Zwischen Wandel und Erfindung
Der morphologische Wandel des 9. Jahrhunderts ist besonders deutlich an der Entwicklung von Wortbildungssuffixen zu beobachten. Wörter wie friduheit (Friedlichkeit) oder gotestuom (Gottheit) zeigen, wie eigenständige Lexeme zu festen Bestandteilen der Wortbildung wurden.
Typische Entwicklungen in der Morphologie waren:
- Produktivwerdung von Suffixen (-heit, -tuom)
- Verschiebung von Nominalisierungsregeln
- Erste Ansätze von Artikelbildung
Diese Entwicklungen markieren den Übergang vom eher freien syntaktischen Stil zu einer strukturierteren Schriftsprache.
Syntax im Wandel: Moderne Analysen enthüllen Strukturen
Sprachwissenschaftler setzen heute auch generative Grammatikmodelle ein, um die Satzstrukturen des Althochdeutschen besser zu verstehen. Dabei zeigt sich: Satzbau und Wortstellung waren weit weniger frei, als lange angenommen. Subjekt–Verb–Objekt-Reihenfolgen, Nebensatzkonstruktionen und Tempusgebrauch unterlagen bereits damals festen Mustern – insbesondere in poetischen oder liturgischen Texten.
Mehr als nur religiös: Die Vielfalt althochdeutscher Textsorten
Während das Hildebrandslied und das Ludwigslied bekannt sind, geraten andere Werke wie das Georgslied häufig in Vergessenheit. Diese Dichtungen, oft zwischen Liturgie und Epos angesiedelt, enthalten zahlreiche poetische Wendungen, die metaphorisch aufgeladen sind und eine ganz eigene Art der Bildsprache entfalten. Besonders häufig sind:
- Stabreime und Alliterationen
- Heilige Dreiergruppen (z. B. „Erde, Wasser, Feuer“)
- Metaphorische Umschreibungen (z. B. „himilo“ für Himmelsgewölbe)
Tabellarischer Überblick: Merkmale und Funktionen althochdeutscher Redewendungen
Merkmal | Funktion | Beispiel |
---|---|---|
Ritualformel | Religiöse Handlung einleiten | „Got ubar alle gote“ |
Alltagskommunikation | Pragmatische Handlungen | „Gimer min ros“ |
Poetische Metapher | Symbolik & Bildsprache | „Ni uuas dar nie man“ |
Emotionsausdruck | Gefühle darstellen | „Ich bin thiu minna“ |
Autoritätsmarkierung | Rollen betonen | „He habet thaz wort“ |
Kein Einheitsdeutsch: Regionale Vielfalt als Chance
Die Vorstellung eines „einheitlichen Althochdeutsch“ ist heute überholt. In Wahrheit bestand eine große Vielfalt an Schriftsystemen, Dialekten und Ausdrucksformen. Das Spektrum reichte vom bairischen Klosterstil über fränkische Verwaltungsprosa bis zu alemannischen Dichtungen. Jeder dieser Räume nutzte eigene Schreibtraditionen – mit teils erheblichen orthographischen Unterschieden.
„Der wahre Reichtum der althochdeutschen Sprache liegt in ihrer Vielfalt.“ – Fazit moderner Glossarforschung
Was wir heute aus dem 9. Jahrhundert lernen können
Die althochdeutsche Sprache des 9. Jahrhunderts ist weit mehr als ein mittelalterliches Kuriosum. Sie eröffnet uns einen tiefen Einblick in die sprachliche Kreativität, Mehrsprachigkeit und poetische Ausdruckskraft einer frühen Kultur. Redewendungen, so fragmentarisch sie überliefert sein mögen, offenbaren dabei nicht nur kommunikative Praktiken, sondern auch Denkweisen, soziale Rollen und Glaubenssysteme.
Mit wachsender Digitalisierung der Handschriften und interdisziplinären Forschungsansätzen beginnt eine neue Ära in der Analyse dieser Sprachstufe. Althochdeutsch ist kein totes Erbe – es ist lebendige Geschichte in Worten.

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.