Vielfalt und Kanon: Wer gehört dazu?
Ein zentraler Punkt der Diskussion ist der literarische Kanon – also jene Werke, die als besonders wertvoll und lehrreich gelten. Kritiker werfen diesem Kanon vor, überwiegend von weißen, männlichen Autoren dominiert zu sein und damit viele Perspektiven auszublenden. Initiativen wie die sogenannte „Lückenliste“ wollen dem entgegenwirken, indem sie Werke marginalisierter Stimmen sichtbar machen. Sie listen Bücher auf, die bislang im Kanon fehlen – etwa von queeren Autor:innen, Menschen mit Behinderung oder aus postkolonialen Kontexten.
Diese Erweiterung ist nicht nur eine symbolische Geste, sondern ein Aufruf, Literatur aus neuen Perspektiven zu betrachten. Doch sie stößt auch auf Widerstand. Einige Kritiker warnen vor einer „ideologischen Aufladung“ des Literaturbegriffs und befürchten, dass literarische Qualität zugunsten politischer Korrektheit vernachlässigt werde.
Bibliodiversität: Vielfalt erhalten statt vereinheitlichen
Das Konzept der Bibliodiversität greift diesen Gedanken auf. Es fordert eine Buchkultur, die sich durch inhaltliche, sprachliche und formale Vielfalt auszeichnet – jenseits von Marktlogiken. Statt immer neuer Bestseller in ähnlichen Formaten soll es Raum für Experimente, Mehrsprachigkeit und Nischenliteratur geben. Dabei geht es auch um das Überleben kleiner und unabhängiger Verlage, die oft als Träger solcher Vielfalt fungieren.
Vielfalt ist kein Nebenaspekt
„Vielfalt ist kein Bonus, sondern eine Grundbedingung kultureller Relevanz.“ – Position eines internationalen Literaturfestivals
Diese Sichtweise stellt klar: Vielfalt ist kein Modebegriff, sondern ein Qualitätskriterium für eine lebendige, demokratische Literatur.
Museen und Institutionen: Die Querschnittsaufgabe Diversität
Literaturmuseen und kulturelle Einrichtungen stehen zunehmend unter Druck, Diversität nicht nur auszustellen, sondern auch zu leben. Ein aktueller Tagungsband beleuchtet, wie diese Häuser der Herausforderung begegnen können. Die Erkenntnis: Es reicht nicht, punktuell eine Ausstellung zu diversifizieren. Vielmehr muss Diversität als Querschnittsaufgabe verstanden werden – etwa bei der Auswahl von Exponaten, beim Personal oder bei der Sprache der Vermittlung.
Mehrsprachigkeit in der urbanen Literatur
Ein besonders spannendes Feld bietet die urbane Literatur in Städten wie Berlin. Dort ist ein Experimentierfeld der Mehrsprachigkeit entstanden. Autor:innen schreiben auf Türkisch, Arabisch, Englisch oder Russisch – und werden zunehmend auch institutionell gefördert. Seit 2018 vergibt der Berliner Senat Stipendien für nicht-deutschsprachige Literatur. Das eröffnet neue Räume und Perspektiven – auch für Leser:innen, die sich bislang im deutschen Literaturbetrieb nicht repräsentiert sahen.
Rückschritte in Großbritannien: Ernüchterung nach dem Aufbruch
Ein Blick nach Großbritannien zeigt, dass Diversitätsversprechen nicht immer eingehalten werden. Die Publishers Association stellte 2024 fest, dass der Anteil ethnischer Minderheiten im Verlagswesen sogar gesunken ist – von 17 % auf 15 %. Besonders betroffen: asiatische und britisch-asiatische Mitarbeiter:innen. Schwarze Beschäftigte machen weiterhin nur 3 % der Branche aus. Diese Zahlen entlarven viele Diversitätsinitiativen als unzureichend und zeigen: Strukturelle Veränderung braucht mehr als gute Absichten.
Literaturpreise und die Debatte um Bewertungskriterien
Ein besonders kontroverses Thema ist die Rolle von Literaturjurys. Ein interner Bericht zur Vergabe des Internationalen Literaturpreises löste 2024 eine Welle der Diskussion aus. Die Kritik: Es gebe Spannungen zwischen literarischer Qualität und dem Wunsch nach Repräsentation. Während einige fordern, Diversität stärker zu gewichten, pochen andere auf traditionelle Qualitätsmaßstäbe. Die Folge: Eine Polarisierung innerhalb des Betriebs, die aufzeigt, wie schwierig ein ausgewogener Umgang mit dem Thema ist.
Kritik an symbolischer Diversität
Ein weiterer Kritikpunkt: Viele Diversitätsmaßnahmen seien rein symbolischer Natur. Das zeigt sich etwa in der Praxis, einzelne Werke marginalisierter Autor:innen zu promoten, ohne langfristige Förderstrukturen zu etablieren. Diese Form des „Diversity-Washing“ steht im Verdacht, lediglich Imagepflege zu betreiben, ohne echten Wandel zu bewirken.
Typische Formen symbolischer Maßnahmen
- Einzelne Diversitätsveranstaltungen ohne strukturelle Folgen
- Quoten ohne Kompetenzförderung
- Marketingkampagnen mit vielfältigen Gesichtern, aber homogenem Inhalt
Innovative Ansätze: KI und personalisierte Erzählungen
Ein völlig neuer Zugang zur Diversitätsförderung ergibt sich durch Künstliche Intelligenz. Das Projekt „MirrorStories“ zeigt, wie mittels KI personalisierte Erzählungen entstehen können – angepasst an Alter, Geschlecht, ethnischen Hintergrund und Interessen der Leser:innen. Die Wirkung: höhere Identifikation und mehr Sichtbarkeit individueller Erfahrungen. Solche Technologien könnten künftig helfen, neue Erzähltraditionen zu etablieren, die abseits normativer Erzählmuster funktionieren.
Übersetzungen: Brücken zur Weltliteratur
Dass Diversität nicht nur innerhalb eines Landes stattfindet, beweist der internationale Literaturbetrieb. 2025 gewann ein Werk der indischen Autorin Banu Mushtaq den International Booker Prize – übersetzt aus dem Kannada. Es war ein Meilenstein für regionale indische Literatur und unterstreicht die Bedeutung qualitätsvoller Übersetzungen, um literarische Vielfalt global zugänglich zu machen.
Spekulative Literatur: Die Zukunft anders erzählen
Besonders in der spekulativen Literatur finden sich viele Stimmen von Autor:innen of Color. Werke von N.K. Jemisin, Ken Liu oder Darcie Little Badger behandeln Zukunftsvisionen aus dekolonialen, indigenen oder migrantischen Perspektiven. Diese Geschichten sprengen oft die Grenzen klassischer Science-Fiction oder Fantasy und erweitern das Genre um sozialkritische, identitätspolitische oder spirituelle Dimensionen.
Kanada als Vorreiter: Das Festival of Literary Diversity
Ein gelungenes Beispiel für nachhaltige Diversitätsförderung ist das kanadische Festival of Literary Diversity (FOLD). Seit 2016 bringt es Autor:innen aus unterrepräsentierten Gruppen zusammen – Schwarze, indigene, queere, behinderte und asiatische Stimmen. Das Festival hat sich zu einem Fixpunkt im kanadischen Literaturkalender entwickelt und zeigt, wie institutionelle Förderung abseits vom Mainstream gelingen kann.
Das Festival of Literary Diversity (FOLD) ist ein jährlich stattfindendes Literaturfestival in Brampton, Ontario (Kanada), das 2016 ins Leben gerufen wurde. Es widmet sich der Förderung von Literatur von unterrepräsentierten Autor:innen, insbesondere aus folgenden Gruppen:
Schwarze und indigene Menschen
People of Color (PoC)
Menschen mit Behinderungen
LGBTQ+-Autor:innen
Menschen mit niedrigem Einkommen oder wenig Zugang zu traditionellen literarischen Netzwerken
Ziel und Bedeutung
FOLD hat sich zum Ziel gesetzt, Vielfalt in der Literatur aktiv sichtbar zu machen und Autor:innen eine Plattform zu bieten, deren Stimmen im Mainstream oft überhört werden. Es möchte die kanadische Literaturlandschaft inklusiver gestalten und eine breite Öffentlichkeit mit vielfältigen Geschichten, Perspektiven und Erfahrungen in Kontakt bringen.
Programm
Das Festival bietet eine Mischung aus:
Lesungen
Workshops
Diskussionsrunden
Schreibseminaren
Schulveranstaltungen
Die Veranstaltungen finden sowohl in Präsenz als auch online statt, um eine möglichst große Zugänglichkeit zu gewährleisten.
Besonderheit
Im Unterschied zu klassischen Literaturfestivals ist FOLD nicht nur kuratorisch inklusiv, sondern auch strukturell: Das Festivalteam selbst besteht überwiegend aus Personen mit diversen Hintergründen, was sich auch in der Programmgestaltung niederschlägt.
Wirkung
FOLD hat sich in wenigen Jahren zu einem wichtigen Impulsgeber für Diversität im Literaturbetrieb Kanadas entwickelt. Es ist auch international ein Vorbild für ähnliche Initiativen in anderen Ländern.
Wenn du magst, kann ich dir noch konkrete Autor:innen oder Themen nennen, die dort vorgestellt wurden.
Fazit: Zwischen Fortschritt, Rückschritt und Neuanfang
Die literarische Welt ist im Wandel. Die Forderung nach Diversität ist keine kurzfristige Mode, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Dabei zeigen sich Licht und Schatten zugleich: Während an vielen Stellen echte Fortschritte sichtbar sind, bleiben andere Bereiche resistent gegenüber Veränderung oder rutschen sogar zurück.
Entscheidend wird sein, wie Literaturbetrieb, Förderinstitutionen, Bildungseinrichtungen und Leser:innen künftig mit diesen Fragen umgehen. Wird Diversität als integraler Bestandteil literarischer Qualität begriffen? Oder bleibt sie ein umkämpftes Feld zwischen politischer Geste und künstlerischer Freiheit?
Eines ist sicher: Die Diskussion ist eröffnet – und sie wird die Literatur noch lange begleiten.

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.