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Die Frauen, die für Hitler kosteten – Wahrheit oder Mythos?

Eine unscheinbare Frau aus Berlin rückte Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Fokus des öffentlichen Interesses: Margot Wölk, geboren 1917, gestorben 2014. Ihre späte Lebensbeichte, sie sei Vorkosterin für Adolf Hitler gewesen, wirft bis heute viele Fragen auf – über Wahrheit, Erinnerung, weibliche Rollen im Dritten Reich und über die Grenzen historischer Rekonstruktion. Was ist dran an der Geschichte von den „Vorkosterinnen Hitlers“?

Ein Blick zurück: Die Wolfsschanze und das Jahr 1942

Im Jahr 1942 zog Margot Wölk aus dem zerbombten Berlin zu ihren Schwiegereltern nach Groß-Partsch, heute Parcz in Polen. Die Wolfsschanze – eines der wichtigsten militärischen Hauptquartiere Adolf Hitlers – lag ganz in der Nähe. Laut Wölk wurde sie dort zusammen mit 14 anderen jungen Frauen von der SS zwangsverpflichtet, um die Mahlzeiten des „Führers“ auf mögliche Vergiftungen zu testen.

Die Rolle als Vorkosterin bedeutete täglichen Einsatz: Jeden Morgen wurden die Frauen mit einem Bus zu einem isolierten Gebäude gebracht, in dem sie vegetarische Gerichte – Hitler war überzeugter Vegetarier – probieren mussten. Die Speisen reichten von Kartoffeln über Brokkoli bis hin zu gekochtem Gemüse. Erst wenn keine von ihnen nach 45 Minuten Symptome zeigte, wurde das Essen dem Diktator serviert.

Vegetarismus und Kontrolle: Hitlers Ernährung

Hitlers strenge vegetarische Diät ist mehrfach belegt. Seine Köchinnen berichteten von seiner Abneigung gegen Fleisch, seine Vorliebe für einfache Speisen wie Püree und gedünstetes Gemüse. Auch Alkohol lehnte er weitgehend ab. Die Kontrolle über seine Ernährung war Teil eines umfassenden Sicherheitskonzepts. Ob dieses tatsächlich externe Vorkosterinnen nötig machte, ist jedoch historisch nicht eindeutig belegt.

Nach dem Attentat: Verschärfte Sicherheitsmaßnahmen

Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 – dem sogenannten Stauffenberg-Attentat – wurde das Sicherheitsregime in der Wolfsschanze nochmals drastisch verschärft. Die Frauen durften nun nicht mehr bei ihren Familien wohnen, sondern mussten in einem SS-Gebäude schlafen. Die permanente Angst vor einem langsamen Tod durch Gift war laut Wölk allgegenwärtig.

Als sich die Front im Osten näherte, wurde die Situation dramatisch. Die Rote Armee rückte vor, und ein Offizier der Wehrmacht verhalf Margot Wölk zur Flucht nach Berlin. Dort wurde sie nach eigenen Aussagen mehrfach von sowjetischen Soldaten vergewaltigt – ein Trauma, das sie ebenso wie ihre Erlebnisse in der Wolfsschanze über Jahrzehnte verschwieg.

Erst spät gesprochen: Das Schweigen der Margot Wölk

Erst 2012, im Alter von 95 Jahren, sprach Wölk zum ersten Mal öffentlich über ihre Vergangenheit. In Interviews schilderte sie die tägliche Angst, das Grauen, das Schweigen – und den moralischen Zwiespalt, Teil von Hitlers System gewesen zu sein, ohne eine Wahl gehabt zu haben. Sie beschrieb ihre Rolle nicht als freiwillig, sondern als eine Zwangslage in einem unmenschlichen Regime.

„Wir waren junge Frauen. Wir hatten Angst. Aber wir konnten nicht weg. Es gab keinen Ausweg.“ – Margot Wölk

Kritische Stimmen: Zweifel an der Authentizität

So berührend Wölks Erzählung ist – sie blieb nicht unwidersprochen. Historiker wie Sven Felix Kellerhoff oder Felix Bohr weisen darauf hin, dass es keinerlei schriftliche oder archivarische Belege für die Existenz einer solchen Gruppe von Vorkosterinnen gibt. Auch existieren keine Zeugenaussagen Dritter, die Wölks Erzählung stützen würden.

Kellerhoff argumentiert zudem, dass Hitler zwei persönliche Köchinnen hatte, die bereits als erste Kostprobe nahmen. Die Existenz weiterer Vorkosterinnen sei daher historisch nicht zwingend. Gleichzeitig gibt es aber auch keine Belege, die Wölks Geschichte widerlegen. Ihre Erzählung bewegt sich somit in einer historischen Grauzone – zwischen Erinnerung, Trauma und Wahrheit.

Kulturelle Rezeption: Roman, Film und Theater

Margot Wölks Erlebnisse haben auch literarisch und filmisch ihren Niederschlag gefunden. Besonders bekannt wurde der Roman „Le assaggiatrici“ („Die Vorkosterinnen“) der italienischen Autorin Rosella Postorino aus dem Jahr 2018. Die Autorin erfand mit Rosa Sauer eine fiktive Figur, die lose auf Wölk basiert. Ihr Werk thematisiert das Spannungsfeld zwischen Opferrolle und unfreiwilliger Mittäterschaft – und stellt die Frage, wie viel Entscheidungsmacht in einer Diktatur wirklich möglich ist.

2025 wurde der Roman von Regisseur Silvio Soldini verfilmt. Der Film erhielt gemischte Kritiken: Während einige die eindringliche Darstellung der weiblichen Perspektive lobten, kritisierten andere die narrative Ausgestaltung als zu pathetisch oder zu spekulativ.

Theater und Bühne

Auch die Bühne hat sich des Stoffes angenommen. Das Theaterstück „Hitler’s Tasters“ von Michelle Kholos Brooks etwa bringt die Geschichte mit schwarzem Humor und dramatischer Zuspitzung auf die Bühne. Es zeigt drei junge Frauen, die unter bizarren Umständen in einer Art Mädchenschlafzimmer über ihr Dasein als „Kosterinnen“ reflektieren – eine moderne, feministische Interpretation der Geschichte.

Die historische Unsicherheit

Was bleibt also von dieser Geschichte, wenn man alle Belege und Zweifel nebeneinanderstellt? Eine klare Wahrheit lässt sich nicht konstruieren. Historische Forschung ist an objektive Beweise gebunden – persönliche Erinnerungen, vor allem aus traumatischen Kontexten, sind zwar wertvoll, aber nicht immer verifizierbar. Die folgenden Punkte verdeutlichen das Spannungsfeld:

AspektStützend für Wölks GeschichteGegenposition
Persönlicher BerichtAusführlich, konsistentKeine Zeugen, sehr spät geäußert
Ort & ZeitWolfsschanze, plausibler KontextKeine Dokumente zu Vorkosterinnen
Psychologische MotiveTrauma und Schweigen erklären die LückeMögliche Verfälschung durch Erinnerung

Ein Stück kollektiver Erinnerung

Ob nun historisch belegbar oder nicht – Margot Wölks Geschichte hat eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Sie macht sichtbar, wie Frauen im Dritten Reich in komplexe Rollen gedrängt wurden – als Opfer, Mitläuferinnen, Überlebende. Ihre Erzählung trifft einen Nerv, weil sie exemplarisch steht für viele vergessene Frauenschicksale jener Zeit.

Gleichzeitig mahnt ihre Geschichte zur Vorsicht: Erinnerung darf nicht unhinterfragt als historische Wahrheit behandelt werden. Sie ist subjektiv, wandelbar und abhängig von Zeit, Trauma und gesellschaftlicher Rezeption.

Fazit

Die Geschichte der angeblichen Vorkosterinnen Adolf Hitlers bleibt ambivalent. Margot Wölk hat mit ihrer späten Lebensbeichte einen menschlichen, emotionalen Einblick in eine bislang unbekannte Facette des NS-Regimes gegeben. Ob sie tatsächlich Vorkosterin war oder sich ihre Rolle mit den Jahren verändert hat – es bleibt Spekulation.

Dennoch: Ihre Erzählung verdient Gehör – als Ausdruck weiblicher Perspektive auf den Krieg, als Mahnung vor totalitären Systemen, und als Beitrag zur historischen und kulturellen Erinnerung. Zwischen Wahrheit und Mythos liegt oft eine Geschichte, die erzählt werden muss – genau das hat Margot Wölk getan.

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Jens Müller

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.

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