Das renommierte Hamburg Ballett steht vor einer tiefgreifenden Krise, seitdem Demis Volpi im Sommer 2024 die Leitung von John Neumeier übernommen hat.
Mehr als die Hälfte des Ensembles, darunter fünf der elf Ersten Solisten, haben ihre Verträge gekündigt. In einem offenen Brief an Kultursenator Carsten Brosda beklagen 36 Tänzerinnen und Tänzer ein „toxisches Arbeitsklima“, mangelnde Kommunikation und fehlende künstlerische Vision.
Besonders der langjährige Solist Alexandr Trusch, der 18 Jahre Teil der Compagnie war, äußerte sich enttäuscht über das künstlerische Niveau unter Volpi:
„Wir haben uns auf eine Veränderung gefreut […], aber als die Veränderung dann kam, waren wir unfassbar enttäuscht von der Qualität und dem Mittelmaß, das mit dieser Veränderung einherging.“
Die Kritik beschränkt sich nicht nur auf Hamburg. 17 aktuelle und ehemalige Tänzerinnen und Tänzer des Ballett am Rhein in Düsseldorf, Volpis vorheriger Wirkungsstätte, berichten in einem Brief von einem Arbeitsumfeld, das von „inkonsequenter Kommunikation, mangelnder Transparenz und einer Atmosphäre der Angst und Unsicherheit“ geprägt war.
Kultursenator Brosda betont die Ernsthaftigkeit der Vorwürfe und kündigt Gespräche sowie externe Begleitung an, um zu einem konstruktiven Dialog zurückzukehren. Volpi selbst äußert Verständnis für die Herausforderungen eines solchen Übergangs und bleibt zuversichtlich, eine respektvolle Kultur etablieren zu können.
Die Zeit drängt: Am 6. Juli sollen die 50. Hamburger Ballett-Tage mit Volpis erster abendfüllender Kreation „Demian“ eröffnet werden. Ob das Ensemble bis dahin zur Ruhe kommt, bleibt abzuwarten.
Strukturelle Spannungen im Ensemblealltag
Die aktuelle Krise hat tiefere strukturelle Ursachen, die weit über persönliche Differenzen hinausgehen. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett berichten übereinstimmend von einem Verlust an Vertrauen und Kontinuität seit der neuen Leitung. Besonders schwer wiegt dabei, dass laut Ensemblemitgliedern Entscheidungen oft ohne nachvollziehbare Begründung getroffen werden. Viele Tänzer fühlten sich plötzlich aus Produktionen genommen, ohne Rückmeldung oder Erklärung, was zu einem Gefühl der Austauschbarkeit führte.
Unter John Neumeier hatte sich über Jahrzehnte ein familiär wirkendes, auf Vertrauen und individueller Förderung basierendes System etabliert. Diese Atmosphäre scheint laut internen Stimmen durch einen kühleren, leistungsorientierteren Umgang ersetzt worden zu sein. Zwar ist ein gewisser Wandel in der Führung nach einem so langen Direktionswechsel nachvollziehbar – jedoch haben Geschwindigkeit und Stil der Änderungen viele Ensemblemitglieder überrascht. Auch die Auswahl externer Gastchoreografen sorgt für Irritation, da diese oft ohne interne Einbindung eingeladen würden.
Ein weiteres Problem sei die fehlende Mitbestimmung: Der Austausch mit Tänzern findet offenbar nur sporadisch statt, geplante Gesprächsrunden werden kurzfristig abgesagt oder enden ohne konkrete Ergebnisse. Die bisherige Partizipationskultur gerät dadurch ins Wanken, was vor allem jüngere Tänzerinnen und Tänzer demotiviert. Die Fluktuation innerhalb der Compagnie hat sich spürbar erhöht – ein deutliches Anzeichen für interne Unruhe.
Künstlerischer Wandel oder Identitätsverlust?
Ein zentraler Kritikpunkt vieler Beobachter und Ensemblemitglieder ist die inhaltliche Neuausrichtung des künstlerischen Repertoires. Während John Neumeier das Hamburg Ballett über Jahrzehnte mit einem unverkennbaren Stil prägte – geprägt von psychologischer Tiefe, literarischen Bezügen und musikalischer Raffinesse –, scheint Volpi auf eine deutlich modernere, fragmentiertere Ästhetik zu setzen. Viele Stücke wirken experimenteller, bruchstückhafter, und werden von Teilen des Publikums wie auch des Ensembles als weniger zugänglich empfunden.
Diese Veränderungen werfen die Frage auf, ob das Hamburg Ballett seine gewachsene Identität zugunsten einer neuen, internationaleren Ausrichtung verliert. Die geplante Premiere von Demian – inspiriert vom gleichnamigen Roman von Hermann Hesse – soll zwar eine Brücke schlagen zwischen Tradition und Neuanfang, doch die Zweifel sind groß. In Probenberichten wird von Unsicherheiten über choreografische Entscheidungen berichtet, Ensembles

Jens Müller ist ein Hobby Historiker und engagierter Forscher, der sich auf Kulturgeschichte spezialisiert hat. Mit einem scharfen Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklungen publiziert er regelmäßig fundierte Artikel. Als Redakteur schreibt er für das Online-Magazin Stefanjacob.de.